Vor fünfzig Jahren

Zum 27. Januar 1909.

Erzählung von Ralph v. Rawitz.
in: „Dresdner Nachrichten”, Belletristische Beilage, vom 26.01.1909


Ein kräftiger Ost blies durch die Prachtstrasse „Unter den Linden”, und vor seinem Hauche tanzten zarte Schneeflocken, die zuerst dahinschmolzen, dann aber, als mit der Abenddämmerung die Temperatur sank, eine weiße Decke bildeten. Zahlreiche Fußgänger, in Pelze und Mäntel gehüllt, belebten die Bürgersteige, auf dem Asphalt rollten elegante Equipagen und Droschken, die dem Opernhause zustrebten; hie und da schimmerten aus den vornehmen Gebäuden Lichter hinter schweren Portieren hervor, und über alles warfen die elektrischen Lampen der Mittelpromenade ihre silbernen, klaren Strahlen.

In dieser Abendstunde des Januartages schritt ein alter Herr quer über den Pariser Platz, auf dem noch in dieser vorgerückten Zeit Handwerker und Ausschmückungsarbeiter beschäftigt waren. Nachdem er einen flüchtigen Blick auf die Gerüste. Girlanden und Beleuchtungskörper geworfen, trat er in eines der großen Häuser, welches ihm der Portier mit dem respektvollen Gruss „Guten Abend, Euer Exzellenz!” öffnete. Es war das Garnisonkasino, der Sammelplatz älterer und jüngerer Gardeoffiziere.

Auch oben, in den zwar schlicht, doch vornehm ausgestatteten Räumen wurde der alte General mit respektvollen Verbeugungen empfangem, als er zu seinem gewöhnten Ecktischchen schritt, an dem er jeden Mittwoch und Sonnabend mit dem alten Oberst Ravenstein seine Partie Piquet zu spielen pflegte. Heute saß der Partner aber nicht an seiner gewohnten Stelle, und statt seiner lag ein Rohrpostbrief auf der Eichenplatte des Tischchens:

„An General von Bliesow, Exzellenz.

Lieber Bliesow, wir hatten zwar heute, Montag, statt des Mittwoch, verabredet, weil dann unser Allerhöchster Herr Geburtstag feiert. Aber ich bin leider heute verhindert, konnte es Ihnen auch nicht eher mitteilen. Also tausendmal Pardon! Auf Wiedersehen! Ihr alter Kampfgenosse Ravenstein.”

Es war also heute nichts mit der gewohnten Spielpartie. Die alte Exzellenz blätterte daher ein wenig in den Tageszeitungen und trat dann zu einer Gruppe junger Gardeoffiziere, die in einer Fensternische standen und auf den taghell erleuchteten Platz hinausblicktcn.

„Guten Abend, meine Herren! Aha, Sie inspizieren auch die Ausschmückungsarbeiten für übermorgen!” sagte er. „Hoffentlich strengen sich alle Bürger unserer lieben Reichshauptstadt recht an! Denn dieses Mal sind es runde fünfzig Jahre — ein halbes Jahrhundert! Großer Himmel, wenn ich an Anno 59 zurückdenke! Mir ist es wie gestern!”

„Können sich Euer Exzellenz darauf noch besinnen?” fragte ein Oberleutnant, „ich meine auf den Tag selbst, auf den 27. Januar jenes Jahres?”

„Na, ob!” lachte der alte Herr, „ganz genau, auf jede Stunde! Auf jede Kleinigkeit! Sie wundern sich darüber? Aber es ist doch so, und ich will es Ihnen erklären. Allerdings konnten wir alle dazumal nicht vorauswissen, daß uns gerade dieser Tag ein Prinzlein bescheren werde, und ich selbst habe es erst spät abends erfahren. Aber neben dem historischen Ereignis knüpfen sich an dieses Datum für mich persönliche Erinnerungen liebster Art, und diese sind es, welche mein Gedächtnis so geschärft haben. — Aber alte Geschichten sind für die heutige Jugend langweilig —”

„Keineswegs, Exzellenz!” riefen die jungen Offiziere, „und wenn wir ganz gehorsamst bitten dürften?”

„Wenn es Ihnen Vergnügen macht — gern! Also — der 27. Januar 1859 war für mich und meine Truppe (ich war dreiundzwanzigjähriger Leutnant) ein gewöhnlicher Wochentag, und zwar ein Donnerstag, an dem meine Kompagnie gewöhnlich Felddienst übte. König Friedrich Wilhelm IV. war, wie Sie ja alle wissen, schwer leidend und an der Ausübung seines Herrscheramtes behindert. An seiner Stelle lenkte der Prinzregent, unser späterer unvergeßlicher alter Kaiser, das Steuer des preußischen Staatsschiffes. Kam durch seine Persönlichkeit in alle Adern des öffentlichen Lebens neues Blut, so namentlich in die Armee. Der Prinz war ein echter Soldat, der alles tat. um das Kriegsheer zu reorganisieren, und der schon damals seine große, berühmte Reorganisation vorbereitete und anbahnte. Wir jungen Offiziere begrüßten seine Maßnahmen mit Jubel und lebhafter Teilnahme, und da der Prinz gelegentlich der Besichtigung unseres Bataillons von der Wichtigkeit des Felddienstes gesprochen hatte, so wurde dieser zu allen Jahreszeiten und bei jeder Witterung besonders emsig betrieben.

So marschierten wir denn auch an jenem fernen 27. Januar schon ganz in der Frühe hinaus in einen trüben Wintermorgen, dessen grauer Himmel alle möglichen Ueberraschungen erwarten ließ. Wir hatten etwa drei oder vier Stunden geübt, da begann ein Schneetreiben, das sich allmählich zu einem wahren Schnee-Unwetter entwickelte. Mir altem Mann kommt es so vor, als ob heutzutage das europäische Klima milder geworden ist, als ob wir solche strengen Winter, wie in den fünfziger und sechziger Jahren, gar nicht mehr erleben. Aber ich lasse dies dahingestellt — damals war es jedenfalls ein Wetterchen, wie in Sibirien.

Na, meine Herren, wir sahen denn auch bald aus wie die Schneemänner, und unser Kompagniechef befahl den Rückmarsch. Ursprünglich war geplant, kriegsmäßig im Freien abzukochen, davon konnte jetzt keine Rode mehr sein. Aber auch der Rückweg bot seine Schwierigkeiten. Der Wind blies uns ins Gesicht, die Wege waren fast grundlos geworden, die Truppe war müde. So beschloß mein Hauptmann, mit einem kleinen Umweg an das Dorf Ober-Steinwalde heranzumarschieren, dort einige Stunden zu rasten und abkochen zu lassen.

Ziemlich erschöpft und durchgefroren trafen wir in den ersten Nachmittagsstunden daselbst ein und wurden prächtig aufgenommen. Ober-Steinwalde gehörte dem Herrn von Griebenitz, der selbst aktiver Offizier gewesen war und sich daher denken konnte, wie durchgefrorenen jungen Soldaten zumute ist. Er nahm die ganze Kompagnie auf sein Gut, ließ in der großen Wirtschaftsküche ganze Kessel voll kochen, Glühpunsch brauen — kurz alles, was bei Wnterszeit das Herz erfreut. Um die Ünteroffiziere rissen sich die wohlhabenden Bauern, die schnell einem Hahn das Genick umdrehten und ihren Johannisbeerwein aus dem Keller holten.

Ich, als jüngster Offizier der Kompagnie, hatte die gesamte Unterbringung inspiziert und kam erst ziemlich spät auf den Gutshof, den ich noch nicht kannte. Auf der Steintreppe stand gerade ein hübsches Mädel von siebzehn oder achtzehn Jahren mit langen, blonden Zöpfe» um den Kopf gewunden. Einer der Zöpfe war bei dem Winde losgenestelt und hing ein wenig herunter.

Das war ein liebes Bild nach der Drangsal des Schneesturms. In mir erwachte aller dreiundzwanzigjähriger Uebermut, die ganze kecke Siegesgewißheit des jungen Soldaten, und mit rascher Hand zupfte ich an dem blonden Zöpfchen. „Kling — Kling — guten Tag!”

Ich wollte die Kleine, die in ihrem blauen Hauskleidchen wie ein Mamsellchen aussah, fragen, wo der Eingang zur'Wohnung der Gutsherrschaft sei. Aber ich kam nicht dazu; denn kaum halte ich „Kling — Kling” gesagt, da — patsch! — hatte ich eine veritable Ohrfeige weg, die ordentlich knallte.

Na — meine Herren — das ist nun alter Brauch: auf eine Ohrfeige folgt stets ein Kuß. Ich also die Kleine umgefaßt und — Schmatz! — da hatte sie ihre Strafe weg. Sic sah mich darauf mit einem Blicke an, der wie eine Degenspitze funkelte, sagte aber weiter nichts und ging ihres Weges.

Aber auch meine Strafe sollte kommen: denn eine halbe Stunde später, als der liebenswürdige Hausherr uns zu Tische nötigte und zuvor natürlich seiner Familie vorstellte, — ich hätte bis in den Mittelpunkt der Erde versinken mögen —, da war die kleine Mamsell plötzlich das Fräulein Wilhelmine v. Griebenitz geworden. Und da sie die jüngste von drei Schwestern und ich der jüngste Leutnant war, so fiel es mir ob, sie zu Tische zu führen.

Meine lieben, jungen Freunde — es gab sehr gute Sachen zu essen, aber ich habe wenig davon geschmeckt, denn ich schämte mich gar zu sehr und wagte kaum das liebe Gesichtchen anzusehen, das einen so reizenden Ausdruck hatte. Es sagte ganz deutlich: „Die Sache ist nun einmal geschehen und nicht zu ändern. So wollen wir beide das Geheimnis für uns behalten und nichts merken lassen.”

Das liebe Kind mit seinen achtzehn Jahren war eben viel vernünftiger als ich, der Aeltere. Wie denn überhaupt die Frauen in solchen Sachen das viel feinere Empfinden und die zartere Hand haben; das sollen wir Mannsvolk dankbar anerkennen. Na. also — es merkte denn auch wirklich niemand das geringste, wir plauderten ganz harmlos und schieden als — scheinbar gute Freunde.

Als meine Kompagnie aber nach einigen Stunden den Marsch fortsetzte, da war sie plötzlich um einen Grenadier stärker geworden: denn neben mir marschierte der Rekrut Amor mit scharfgeladenem Gewehr!

Ja. meine Herren. ich war verliebt — zum ersten und auch zum letzten Mal in meinem Leben. Wie ein Trunkener kam ich daheim an und ging, den ganzen Frühling im Herzen, noch in spätester Abendstunde in das Kasino, um meiner ersten Liebe einen vollen Becher zu weihen. Aber was war das? Im Kasino waren alle Fenster illuminiert, schon auf den Treppen erscholl der alte Friderizianisch« Marsch — der Hohenfriedberger — an der Hausfront wehten alle Fahnen im Nachtwind?

Dem Prinzen Friedrich Wilhelm war der erste Sohn, dem greisen Prlnzregenten ein Enkelchen geboren! Der Telegraph hatte soeben die Kunde gebracht! Das alte Hohenzollernhaus stand auf zwei neuen blauen Augen!

Das war ein Jubel, meine Herren, eine Begeisterung! Wie der Hauch einer neuen Zeit, wie die Vorahnung dessen, was l864, 1866, l870 bringen sollten, wehte es durch uns alle! Und in mir vereinigte sich die stürmische Liebe zu König und Königshaus mit dem seligen Gefühl erster leidenschaftlicher Liebe zu einem holden Frauenbild. —

Meine Geschichte ist au», meine jungen Freunde; denn was hinterherkam, gehört nicht mehr zum 27. Januar: daß ich die blonde Wilhelmine bald nachher in mein Haus führte und daß wir beide, sie und ich. nun bald fünfzig Jahre nebeneinander durch da» Leben marschieren.

Aber das sind Privatsachen, die immer zurückstehen müssen, wenn es das große Ganze gilt. In diesen Tagen aber heisst die Devise, die für ganz Deutschland lautet,„Kaisers Geburtstag!” Da müssen die leisen persönlichen Erinnerungen, die Sie so freundlich mitangehört haben, verklingen in der größeren geschichtlichen Betrachtung und in dem Ruf, der uns allen aus der Seele dringt: Die Hand des Geschick» schirme ihn und sein Haus! Hie gut Preußen, hie gut Deutschland allerwegen! Es lebe der Kaiser!”

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